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Funktionale Stimmpädagogik 
nach Cornelius Reid

Portrait von Cornelius L. Reid

 

 

 

Cornelius Lawrence Reid

Die Kunst, auf jeder Tonhöhe des gesamten Stimmumfangs, ganz besonders aber in der Nähe des Registerbruchs ein messa di voce ausführen zu können, wurde jahrhundertelang und wird auch noch heute als die höchste Vollendung der Kunst beim Gesang angesehen.

Die Kunst aber, jeden Ton ohne Bruch an- oder abschwellen zu lassen (messa di voce) beruht auf der vollendeten Integration von Brustregister und Falsett.

Begriffe wie Brustregister oder Falsett werden in der Praxis mit zahlreichen Ausdrücken für klangliche Qualitätsmerkmale umschrieben, die zwar dasselbe meinen, aber verwirrend vielfältig sind. Daher versteht es sich von selbst, dass nicht die Terminologie den Schlüssel technischer Entwicklung darstellt, sondern die Fähigkeit, zwischen dem Tonprodukt als Ergebnis und den möglichen mechanischen
Vorgängen, die dieses Ergebnis erzeugen, sauber zu unterscheiden.

Der Stimmmechanismus funktioniert unter einer unglaublichen Vielzahl von Bedingungen. Herauszufinden, welche Behandlungsweise dem jeweiligen technischen Stand eines Schülers angemessen ist, erfordert eine besondere Art des Zuhörens, nämlich das Vermögen, funktionell hören zu können.

Funktionales Hören geht nicht von einer ästhetischen Prämisse aus, sondern von dem Verständnis der komplexen physiologischen und funktionalen Prozesse der menschlichen Stimme. Nicht alle gesunden Tonqualitäten sind schön, besonders die nicht, die während der Entwicklungsstufe der Integration von Bruststimme und Falsett auftauchen. Es sind auch nicht alle ästhetisch annehmbaren Töne funktionell gesund. Hier liegt die Aufgabe des Lehrers und des Schülers, den Unterschied zu erkennen und herauszuhören.

Wie aber erkennt man diesen Unterschied?
Wenn ein Mechanismus - so auch der Stimmmechanismus - leistungsfähig arbeitet, sind Reibung und Widerstand minimal. Diese physikalische Bedingung bei der Stimmentwicklung zu berücksichtigen, hat die Vergrößerung des Stimmumfangs, größere Beweglichkeit, sparsameren Umgang mit dem Atem, Vokalreinheit, Freiheit von Gesichtsverzerrungen und weitgehend das Fehlen von Ermüdungserscheinungen zur Folge.

Funktionale Stimmentwicklung ist geprägt von der Stimulation (Anregung) reflektorischen (unwillkürlichen) Verhaltens des Stimmmechanismus.

Ziel des Gesangsunterrichts ist die bewusste und vom Willen gesteuerte Kontrolle über ein unwillkürlich arbeitendes Muskelsystem. Doch die bewussten und willentlichen Kontrollsysteme, die imstande sind, auf das für die Tonerzeugung verantwortliche unwillkürliche Muskelsystem einzuwirken, gibt es nicht.

Jede erwartete Tonqualität jedoch ist das Ergebnis einer spontanen Reaktion auf die Kombination von Tonhöhe, Lautstärke und Vokal. Deshalb muss man, um wesentliche Fortschritte bei der Stimmentwicklung zu erzielen, die durch reflektorische Bewegung hervorgerufene Tonqualität beobachten und die dabei erwartete Tonvorstellung mit den verschiedenen Anregungsmöglichkeiten der Stimmübung abstimmen.

Alle organischen Systeme werden von der Umgebung, der sie ausgesetzt sind, beeinflusst, reguliert und kontrolliert. Bestimmte Kombinationen von Tonhöhe, Lautstärke und Vokal stellen die Vorsaussetzung (Umgebung) dar, die das Klangergebnis beeinflusst, reguliert und kontrolliert.

Die Mechanismen, die daran beteiligt sind, Zugang zu den unwillkürlichen, als Stimmlippenspanner und -dehner fungierenden Kehlkopfmuskeln zu finden, sind mit dem Prinzip eines Kombinationsschlosses vergleichbar. Wenn man die richtige Zahlenkombination wählt (hier die richtige Auswahl der Tonhöhe, Lautstärke und Vokal), fällt der Riegel und das Schloss geht auf. Der entscheidende Faktor hierbei ist, die richtige Kombination zu kennen.

Der wichtigste Aspekt dieser Lehrmethode ist die Notwendigkeit, vertraute Kontrollsysteme aufzugeben und mechanisches Wiederholen von Routineübungen zu vermeiden, um mit entsprechend zugeschnittenen Übungsanregungen auf den jeweiligen Entwicklungsstand der Stimme reagieren zu können.

Ein weiterer entscheidender Schlüssel zur freieren Stimmgebung ist die durch rhythmisierte Übungen geförderte spontane Muskelbewegung, die auf den rhythmischen Impuls absolut frei reagiert und dadurch die logischen Stimmorganbewegungen erst ermöglicht. Aus dieser Verhaltensweise ergibt sich ein wachsendes Bewusstsein für das Selbstregulierungsvermögen des Stimmmechanismus, der durch diesen Anreiz sich selbst korrigiert!

Vier einfache Prinzipien bilden die Grundlage funktioneller Stimmarbeit:
die Zwei-Register-Theorie 
die Notwendigkeit des reinen Vokals
der Gebrauch des Rhythmus, um Muskulatur
zur Spontaneität anzuregen und
die Wahl der Dynamik (laut oder leise)

Die beiden ersten Prinzipien beschreibt Stephan F. Austin hervorragend in dem Artikel Confession of a Golf-Playing Voice Scientist in: Australian Voice, Volume 4, 1998, S.1-4:
„Es gibt zwei gegenspielerische Muskelsysteme in der Kehle und jedes von ihnen bestimmt das elementare Wesen eines Registers. (Heutige Wissenschaftler bestätigen diese alte Theorie). Kräftige ein Muskelsystem und du bildest ein Register. Fast alle Gesangsstimmen sind in einem der beiden Register unausgewogen, und da das so ist, kann die Stimme nicht richtig funktionieren. Nimm das schwache Register und kräftige es. Sobald es gekräftigt ist, gleiche es an das dominante Register an, und die Stimme wird ihr volles Potential erhalten. Der Erfolg wird sein, dass alle Registerunterschiede verschwinden! Lautstärke weckt die Bruststimme beim Sprechen. Brustregister ist die Quelle der Kraft und Fülle eines Tones. Sanfte Tongebung bringt das Falsett hervor, die Quelle der Leichtigkeit und Flexibilität. Das „a“ ist der Vokal des Brustregisters, der Vokal „u“ der des Falsetts. Durch entsprechende Übungen (mit diesen Vokalen) erreichen wir eine muskuläre Bedingung, die Schwäche stark macht und Stärke ausbalanciert. Die Natur wird siegen und das Ergebnis wird vorhersehbar. Der Segen dieses Prinzips liegt in seiner Einfachheit“.

Das größte Hindernis beim Studium von Registermechanik besteht darin, dass die Register häufig nach Stimmcharakteristika benannt wurden und die gewählten Begriffe in keinerlei Bezug zu den physiologischen Vorgängen stehen, die diese Klänge hervorrufen.

Was besagen Namen wie Falsett, Bruststimme, Brustregister, Pfeifregister, Strohbassregister, Fistelstimme, Kehlstimme, gemischtes Register, Kopfstimme u.a.?  Wie viele Arten von Falsett gibt es und welche lassen sich mit dem Brustregister integrieren?.

Trotz der verschiedenen Interpretationen und Benennungen dieses Problems traf die von Italienern im 18. und 19. Jahrhundert verfochtene Zwei-Register-Theorie auf beinahe universelle Anerkennung.

Der Erfolg bei der Lösung dieser strittigen Punkte hängt allein von der Fähigkeit ab, die vielen, in Abhängigkeit von der Registermechanik bestehenden, unterschiedlichen Bedingungen hören und miteinander in Einklang bringen zu können.

Dieses geübte Hören, das man zur Entwicklung und Integration der Register benötigt, ist eine Fähigkeit, die man im Laufe von Jahrhunderten durch fortwährende empirische Beobachtungen gewonnen hat. Das Ohr wurde darauf eingestimmt, verschiedene Registergleichgewichte zu erkennen.

Diese Art zu hören war in der Vergangenheit, ganz besonders in der Belcanto Ära allgemein verbreitet und ist für die heutige Gesangspädagogik von dem Amerikaner Cornelius Reid, dem geistigen Vater des Begriffs Funktionale Stimmentwicklung wieder neu entdeckt worden.

Sein funktionelles Stimmkonzept befreit von zu vielen Entspannungstechniken und konzentriert sich auf das Wesentliche, den Stimmmechanismus selbst. Die Stimme wird stimuliert und nicht manipuliert.

Das Erkennen funktioneller Abläufe und die bewusste Erfahrung der Registerabhängigkeiten verhelfen den Sängern zur Fähigkeit, stimmliche Fehler wahrzunehmen und einzuschätzen, und zeigen Wege zu deren Beseitigung auf.

Funktionale Stimmbildung ist ständige Veränderung und Anpassung. Sie beinhaltet Beobachtung dessen, was aktuell passiert, und nicht, was passieren soll. Sie führt zu vergrößerter Wahrnehmungsfähigkeit des Ohres, die verschiedensten Tonqualitäten zu unterscheiden. Die Bedeutung des reinen Vokals und der rhythmischen Phrase für spontane Muskelbewegung führt zu einem totalen Umdenken hinsichtlich der Stimmentwicklung.

Ganz besonders die Forderung nach Vereinfachung, nach Vermeidung unnötiger Körperbewegungen und nach Konzentration auf die wesentliche Arbeit an der Stimme machen das Konzept aus.
Gesangstechnische Entwicklung ist weder Manipulationskunst noch ein Programm zur Kontrolle des Stimmapparates, sondern mehr ein Vorgang, durch den Muskelstörungen sich von selbst aufheben. Dies tritt immer dann ein, wenn man organisch bedingte Gesetzmäßigkeiten befolgt.

Funktionale Stimmbildung ist keine Gesangsmethode, sondern der Stimmentwicklungsvorgang selbst deckt die Dynamik des dahinter liegenden organischen Prinzips auf, von dem der stimmliche Mechanismus bzw. die stimmlichen Bewegungsmuster gelenkt werden.

Leonore Blume

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